Mittwoch, 1. August 2012

REVIEWS: Kalle Stille - Kurz vor dem Arsch der Welt links ab (Buch)


Kalle Stille
KURZ VOR DEM ARSCH DER WELT LINKS AB...

[Buch, 254 Seiten, Verlag "Under The Ivy", ISBN 978-3-9814906-0-2] "Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“?!? Da ahnt man schon worum’s geht, oder?!? Nein, es geht nicht nach Meppen! Na ja, vielleicht doch ein bisschen... Kurz gesagt: Ein Altpunk schreibt eine Autobiografie über seine Kindheit und Jugend in der Provinz. Also quasi ein Kleinstadtroman. Das kommt Dir jetzt irgendwie bekannt vor? Richtig! Es gab ja schon „Dorfpunks“ von Rocko Schamoni. Lustigerweise lässt Autor Kalle Stille sich am Ende seines Buchs auch augenzwinkernd darüber aus, dass Rocko allein mit seinem Buchtitel damals das ultimative Schlagwort für diese Thematik okkupiert hat. Pech also für Leute wie Kalle, die zu spät mit ihrem Buch angefangen haben, haha… Aber ich will „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ gar nicht sooo sehr mit „Dorfpunks“ vergleichen … wobei … wenn ich gleich im ersten Absatz permanent darüber schreibe, ist es eh zu spät, oder?!? Haha, also egal!


Ich bin mir nicht ganz sicher ob ich „Dorfpunks“ überhaupt mal komplett gelesen habe, daher kann ich grad wenig Parallelen ziehen. Den Film hab ich gesehen, den fand ich eher so … nett … Irgendwas ist mir noch mit Unkraut-Ex in Erinnerung geblieben, das kommt jedenfalls auch bei Kalle Stille vor. Aber Kalle schreibt hier schon so ziemlich seinen eigenen Stiefel und hat auch genug erlebt, daher sollte ich vielleicht einführend mal zusammenfassen wer dieser ominöse Kalle Stille überhaupt ist.

Karl-Heinz Stille ist seit Anfang der 1980er-Jahre in der deutschen Punk(rock)szene aktiv. Und „aktiv“ heißt, der hat nicht nur gesoffen und Bullenwagen angezündet, sondern er hat zuerst einen kleinen Vertrieb gemacht, und sich später dann aber vor allen Dingen als Fanzineherausgeber und –schreiber hervorgetan. Ich bin das erste Mal über ihn gestolpert, als wir vor ein paar Jahren gemeinsam beim Ox Fanzine geschrieben haben. Unter Dutzenden von Mitschreibern fallen einem da schnell diejenigen auf, die auf der gleichen musikalischen Wellenlänge funken, und Kalle Stille war immer mit einem exzellenten Musikgeschmack gesegnet und auch dem richtigen Humor, den er in diversen Kolumnen auslebte.

Schade eigentlich, dass wir uns (bisher) nie persönlich begegnet sind, aber jetzt konnte ich mir den guten Kalle hiermit ja wenigstens in Buchform in die gute Stube holen. Und gleich vorneweg gesagt: Ich lebe in Meppen (Emsland), er lebt in einem Kaff bei Stuttgart. Da dürfte klar sein, dass ich mich mehr als gut in seine Erlebnisse hineinversetzen kann, auch wenn uns altersmäßig circa 10 Jahre trennen. Zumindest werden direkt auf den ersten 30 Seiten schon mal Meppen und Berentzen Appel erwähnt, da fühlt man sich als emsländisches Landei doch gleich wie zuhause!

Ansonsten geht’s unter anderem darum, wie Kalle überhaupt im schwäbischen Möglingen landete, um teils kuriose Besuche bei der Verwandtschaft in der DDR, wilde Teenagerjahre mit Pornografie, Partys und Sauferei, schockierenden Rauf- und Prügelgeschichten, explosive Episoden über Sprengkörperbau mit dem schon erwähnten Unkraut-Ex, Aggressionsabbau in einer Rugbymannschaft und später dann das harte Leben nach der Schule, inklusive Wehrdienstverweigerung, treffenden Erkenntnissen über den Zivildienst in einem Behindertenwohnheim (auch da bin ich Leidensgenosse) und allem Drum und Dran. Was man halt erlebt wenn man jung ist und die Lebensplanung nicht so ganz nach dem Prinzip Schule, Lehre, Beruf, Frau, Hausbau, Kinderkriegen ausgerichtet ist…

Über allem schwebt in diesem speziellen Fall aber natürlich: PUNK! Und wie man zum Punk kommt. Wie Kalle hier selbst so schön schreibt: Man wacht nicht eines Morgens auf und ist „Punk“. Und Kalle ist auch nicht das, was manch einer heute unter Punk versteht. Also weder ein sich übers Outfit definierende „NOFX“ oder „Millencolin“ Shirtträger mit Emofrisur, noch ein schnorrender dauerbesoffener Ranzpunk vom Bahnhof. In dem Zusammenhang ist z. B. lustig zu lesen, wie er den Mythos um die Hannoveraner Chaostage demontiert, bei denen er damals selbst anwesend war! Weitere besondere Infos für Punkspezialisten sind u. a. ein kurzer Exkurs zum berühmt-berüchtigten Label Rock-O-Rama und generell das Miterleben des Wachstums der deutschen DIY-Punkszene, in Form von Mailorder-, Vertriebs- und Fanzinekultur und das daran anschließende Aufkommen von Hardcore. Was ja damals auch was anderes war, als die Prollkultur die diesen Begriff heutzutage leider für ihre Musik gepachtet hat… Wer also denkt Punk ist nur Pogo und Hardcore ist nur Circle Pit, der sollte das Buch ruhig mal lesen. Kalle bringt hier nämlich ganz gut rüber, dass Punk etwas mit Attitüde zu tun hat (oder es zumindest sollte) und nicht mit Outfit oder albernen Ritualen. Dass es beim „Punk sein“ vor allen Dingen um Selbstverwirklichung geht und darum, was auf die Reihe zu bekommen. Und ohne diese damalige „Do It Yourself“ Attitüde von Punk/Hardcore, würde es die Strukturen, auf die sich heutzutage diese ganzen halbprofessionellen „Indie/Alternative“ Band berufen, überhaupt nicht geben!


Aber Punk hat natürlich auch was mit Musik zu tun. Dementsprechend kann man hier auch viel über Kalles Beutezüge durch die Plattenläden und Mailorderlisten dieser Republik lesen. Und dass er eine ausgeprägte Sammlermentalität hat, wird schon deutlich wenn er z. B. über die Musikbilder-Einklebehefte der 80er schreibt, die dem ein oder anderen Zeitgenossen vielleicht noch bekannt sein dürften. Ich würde heute gerne mal einen Blick in Kalles Wohnung werfen. Ich tippe mal auf mindestens zwei 5x5er Expedit-Regale mit Vinylschallplatten und überall in der Wohnung verteilter Sammlerschnickschnack: Figuren, Bücher, Poster, Sammelalben…

Daneben wird einem oft beim Lesen eines solchen Buches erstmal wieder bewusst, wie sehr das Internet in den letzten Jahren auch die Zeit verändert hat. Wie viel Zeit man damals in Tape- und Vinyltrades investiert hat. Wie viel Zeitaufwand es allein war ein Mixtape aufzunehmen, während man heute problemlos die Festplatte mit einem Terabyte Musik vollsaugen kann, die man doch in den nächsten 20 Jahren nicht komplett hören kann…

Etwas seltsam fand ich ja seinen Vergleich von Masturbation und dem Entdecken von Musik – man kann beides nur alleine... ähem, nun ja… Nachdem er die Masturbationsphase hinter sich hatte, startete Kalle jedenfalls diverse Projekte. Unter anderem den schon erwähnten kleinen Vertrieb für Kassetten und Tapes und auch kurzzeitig eine eigene Band. Und vor allen Dingen da bin ich ihm dankbar, dass er die Zeit NICHT durch die rosarote Brille zeigt, wie das ja in JEDEM anderen Buch zu dem Thema zu sein scheint! In einer Band zu sein kann auch ganz schön ätzend sein, das wird hier deutlich, haha!

Wichtig sind aber natürlich auch Kalles diverse Fanzines, namens „Vollsuff“ und „Think“, für die er selber schrieb, Comics zeichnete und alles selbst rausbrachte. Bis er dann beim „Plot“ und „Zap“ landete und heute nach wie vor beim „Ox“. Auch warum er nicht beim „Trust“ mitgewirkt hat wird hier mit reichlich amüsanten Seitenhieben geklärt. Aber womöglich geh ich hier auch schon zu sehr in Insider-Details. Wer über Kalle Stilles Fanzineaktivitäten mehr wissen möchte, dem sei wärmstens sein anderes Buch „Alles was ein Fanzine braucht“ empfohlen. Ein 500-Seiten-Wälzer mit einem Großteil seines schreiberischen Schaffens aus den letzten 27 Jahren!


Über „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ kann ich jedenfalls resümieren, dass ich eine Menge Spaß mit dem Buch hatte. Wahrscheinlich auch, weil ich ähnlich aufgewachsen bin wie Kalle Stille und einen ähnlichen Background hab. Insgesamt gibt es hier vielleicht keine Überraschungen, aber was soll es in so einer Kleinstadt-Autobiografie auch für Überraschungen geben?!? Dass dem Protagonisten eines Morgens ein Horn aus der Dunstkiepe gewachsen ist oder das er sich ein zweites Arschloch gefurzt hat? Nein nein, das hier ist ein solides amüsantes Buch, in dem ich viel Parallelen zu meiner eigenen Kindheit und Jugend finde, auch wenn ich ein paar Jahre nach dem Autor zur Welt gekommen bin. Ich denke das Buch ist aber durchaus auch für Leute interessant, die nicht unbedingt aus der Punkrockszene kommen, sich aber gerne auf Geschichten von irgendwelchen Nerds einlassen, hehe… Speziell Kleinstädter und/oder Landeier!

Ich hatte kürzlich das Gefühl, dass es momentan relativ viele dieser „Kindheit in den 80ern“ Bücher gibt. Da gehört „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ natürlich auch erstmal dazu. Aber an diesem Buch schätze ich vor allen Dingen, dass hier nicht permanent diese ätzende „Früher war alles besser“ Sentimentalität verbreitet wird. Kalle Stille hat vielmehr eine realistische rückblickende Sicht auf die Dinge, garniert mit einem dicken Brocken Sarkasmus/Ironie und staubtrockenem Humor.

Kritik gibt’s von meiner Seite eigentlich nicht viel. Rein technisch hat das Buch einen etwas blöden Satzspiegel, der bis fast an den Rand und in die Bindung geht. Inhaltlich häufen sich im hinteren Teil die Rechtschreibfehler und es gibt auch einige Wiederholungen (wir werden z. B. des Öfteren aufs Neue über die Sprenggeschichten mit dem Unkraut-Ex aufgeklärt, und welche Kalles zweite selbstgekaufte Platte war und was es damit auf sich hatte, nicht zu vergessen seine permanenten Höhlenmenschen-Metaphern…), die man mit einem guten Lektorat bestimmt noch hätte ausdünnen können. Aber das ist dann wahrscheinlich auch schon nicht mehr Punk, haha… Und ich schätze Kalle Stille wollte von vornherein keinen „Preis für kreatives Schreiben“ gewinnen! Das überlassen wir dann mal lieber hippen 17jährigen Indie-Boys’n’Girls, die sich ihre Texte von irgendwelchen Blogs zusammenklauen. (Bernd)

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