Montag, 27. August 2012

Konzerte: "Redefluss" am Püntker's Patt - 25. August 2012

So, das war er also, der "Redefluss" - der erste Poetry Slam von der "Inititative 2.0" und dem Meppener Jugendzentrum "J@m-Center"! Ich erinnere mich, dass die Ausrichtung eines Poetry Slams eins der ersten "Sollten wir mal machen" Projekte war, als ich mich vor ca. anderthalb Jahren bei den ersten Treffen der "Initiative 2.0" eingeklinkt hatte. Erstmal stürzten wir uns damals allerdings auf Konzerte und dann ... boing ... fand plötzlich ein anderer Poetry Slam im Musikhaus "Dausin & Hartmann" statt.

War aber gar nicht schlimm, vielmehr war an der dortigen starken Publikumsresonanz schon zu erkennen, dass sowas durchaus Sinn macht in Meppen. Und kürzlich war ja noch ein ähnliches Event im Jugendgästehaus am Helter Damm. Hatte ich erwähnt, dass ich beide verpasst hab?!? Eins aus Schusseligkeit, das andere aufgrund diverser Terminkollisionen. Ähem, Asche auf mein Haupt...

Ich sag mal gleich dazu: Auch bei der Planung vom "Redefluss" war ich eher passiv, und zwar aus dem Grund, weil ich momentan eine neue Ausgabe meines Fanzines aus dem Boden stampfe. Und das ist nicht immer ein Zuckerschlecken... Ich könnte jetzt zum großen Rundumschlag ausholen, wie schlecht sich das alles mit dem persönlichen Zeithaushalt verträgt, mit dem Berufsleben im 40-Stunden-Job, mit dem Sozialverhalten im allgemeinen und ... ach ... ich kann's auch einfach darauf beschränken, dass ich momentan halt in der "Reviewmarathon-Phase" bin, in der ich tagein tagaus zu Hause hocke und wundervolle Vinylschätzchen von unbekannten aber großartigen Bands wie THE MIDWEST BEAT (aus Wisconsin), DIN SKEVF (aus Schweden), DEUTSCHE BANKS (aus Kanada, bester Bandname), MIESHA & THE SPANKS (ebenfalls Kanada), REGAL (aus Frankreich) und zig anderer obskurer Combos anhöre, über die ich dann vielsagende englischsprachige Reviews schreibe, in denen allerhand Adjektive wie "rad", "awesome" und "fuckin' amazing" vorkommen... Und natürlich die Dutzenden Platten die einfach scheiße sind, die man sich aber trotzdem anhören muss...

So gesehen, war ich in den letzten Tagen und Wochen also auch schreiberisch tätig, auch wenn ich damit nicht beim Poetry Slam auftreten konnte und wollte. Aufgrund dieser zeitafwändigen Reviewscheiße musste aber ich den Leuten von der "Initiative 2.0" unter der Woche sogar die Moderation der ganzen Sache absagen, da ich ohnehin nicht direkt zum Startschuss der Veranstaltung da sein konnte, weil ich noch vor'm Plattenspieler hockte. Tja, ein Punkrockfanzine zu machen ist ein hartes Brot...

Gute Kulisse beim "Redefluss" am Püntker's Patt. Alles linksrum, außer die Sportler! (Foto von Melanie Silies: www.facebook.com/MSiliesFotografie)
Um kurz nach 21 Uhr war ich dann mitsamt Begleitung endlich am Püntker's Patt, wo die ganze Sache stattfand (mein Namensvorschlag "Poetry am Pennereck" wurde leider vorab von "Redefluss" ausgestochen, schade, hehe...). Der Nachmittag hatte mit mehreren Gewitterschauern noch mal für Zittern gesorgt und anscheinend war auch auf das Gelände der ein oder andere Schauer niedergegangen. Als wir ankamen hatten wir aber die Sonne im Gepäck ... ha, nein, stimmt gar nicht, es war ja schon dunkel. Aber die Wolkendecke klarte auf und es war sehr angenehm, Sternenhimmel, großer Wagen, kleiner Wagen, alle da! Stichwort Dunkelheit: In den nicht beleuchteten Bereichen war ich auch wieder äußerst nachtblind und bin wahrscheinlich wieder grußlos an 2 Millionen Bekannten vorbeigelaufen. Falls sich jemand ungerecht behandelt fühlt: Fühle Dich hiermit gegrüßt, denn ich hab leider nix gesehen... Ich muss auch dazusagen, dass ich aufgrund des Vorabends noch etwas neben mir stand, da gab's zuviel Bier, Enzianschnaps und ich hab nachher ... immer ein Zeichen für Totaleskalation ... noch nen Kerl geküsst. Puh, darüber breiten wir mal lieber den Mantel des Schweigens...

Ansonsten war ich aber nach den ersten Metern am Ort des Geschehens echt baff, wie viele Leute da waren! Im Planungsvorfeld war man von ca. 100-150 Leuten ausgegangen, ich würde aber mal locker auf 250 tippen, die sich erfreulicherweise vom nachmittäglichen Regen nicht hatten vertreiben lassen. Hut ab Meppen! Alle Altersklassen waren vertreten, vom Lehrer bis zum intellektuellen Hipster-Beatnik mit Lakritzbrille und 5-Tage-Bart bis hin zu "normalem" Laufpublikum, das einfach nur mal gucken wollte und sich ein Bier, einen Cocktail oder eine Grillwurst genehmigte. Direkt als wir ankamen trafen wir leider auch auf den ersten jungjugendlichen Vollhonk, der besoffen durch die Gegend fiel, aber selbst das blieb im Rahmen und war auch der einzige Vorfall dieser Art, soweit ich es mitbekommen habe.

Foto von Melanie Silies: www.facebook.com/MSiliesFotografie
So, damit ging's also für uns los mit dem Poetry Slam. Ich wusste ja gar nicht was auf mich zukam, denn wie erwähnt hatte ich die anderen Slams in Meppen leider verpasst. Der Duden sagt jedenfalls:
auf einer Bühne vor Publikum [das gleichzeitig die Jury ist] ausgetragener Wettbewerb, bei dem die Teilnehmer selbst verfasste Texte vortragen
Nun ja, als beinharter Punkrocker steht man ja generell eigentlich nicht auf so Kleinkunstkram, ich war also gespannt ob ich applaudieren oder mit Flaschen werfen musste. Die Vorrunde und die erste Band FOOLS FROM STACK hatten wir ja leider schon verpasst und stiegen also direkt mit dem Halbfinale ein. Wir pflanzten uns neben ein schwer verliebtes Lesbenpärchen und harrten der Dinge die da kommen sollten. Und, was soll ich sagen?!?! Das Halbfinale bestand aus 5 "Slammern" die jeweils fünfminütige Texte vortrugen. Und davon war ich echt beeindruckt!!! Was da für ein Feuerwerk an Ideen abgebrannt wurde war schon großartig. Von ernst bis albern, von prosaisch bis lyrisch, teilweise auch mit interessanter Rhythmik vorgetragen, die teilweise sogar in Richtung Sprechgesang ging. Manchmal auch mit Publikumsinteraktion (und die Meppener machten sogar mit!!!), also da ging schon einiges...

Ich mach ja nicht nur diesen Blog, sondern beschäftige mich in meiner Freizeit ja auch in anderer Form mit dem geschriebenen Wort (wenn ich nicht gerade den ganzen Tag Plattenreviews schreiben muss), aktiv wie auch passiv. Und bei einigen Beiträgen erstarrte ich schon fast vor Ehrfurcht, wie kreativ da mit diversen Themen umgegangen wurde. Teilweise wurde das dann auch noch ohne Textblatt vorgetragen, mein Gott, ich könnte mir das gar nicht alles merken. Ich konnte mir ja nicht mal die Namen der Beteiligten merken, haha... Aber das hat auch vielleicht den Vorteil, dass ich so niemanden herausheben kann. Es waren jedenfalls neben Emsländern und Grafschaftern auch Leute aus Berlin und Halle auf der Bühne. Und für mich war kein Ausfall dabei, es war alles auf seine eigene Weise interessant und man konnte sich schnell in das Vorgetragene hineinversetzen.

So sah's von hinten aus: viele Leute, bunte Bühne, brennende Feuertonnen. (Foto von Melanie Silies: www.facebook.com/MSiliesFotografie)
Im Finale standen dann eine junge Dame aus Berlin und ein junger Herr aus Bad Bentheim, die nicht nur gegeneinander "kämpften" sondern auch ein bisschen gegen allerlei Insektengetier, das vom Bühnenlicht angezogen wurde. Dementsprechend gab's nicht nur was für die Ohren sondern auch ein paar lustige Zappeleinlagen von den Protagonisten, haha... Gewonnen hat letzendlich der Bad Bentheimer, Florian hieß er (die Namensnennung wurde auch irgendwie zum Running-Gag auf dem Platz: "Flooooorian!"), der auch echt gut war. Bei seinem letzten Text hab ich teilweise Tränen gelacht, das ging schon fast in Richtung Stand-Up-Comedy, großartig! Verdienter Sieg, auch weil seine "Kontrahentin" zwar einen guten Text vortrug, aber irgendwie etwas haspelig wirkte. Wer weiß, vielleicht war sie auch irritiert von den umherschwirrenden Motten, haha...

Zwischendurch spielten übrigens noch RAZZ, die immer noch extrem gut sind, oder vielleicht einfach nur immer besser werden. In den letzten Wochen sah's mal ganz gut aus, dass ich eine CD für die mache, das hat sich kürzlich aber leider zerschlagen. Ich hoffe die Jungs kriegen trotzdem zeitnah mal was auf Tonträger gepresst, es muss jetzt mal was unter die Leute, ich schätze dann läuft's noch besser für die. Toi toi toi!

Der Sieger Florian! Sieht ganz lieb aus, redete allerdings viel über Scheiße, Sex und anderes unflätiges Zeug... (Foto von Melanie Silies: www.facebook.com/MSiliesFotografie)
Und sonst? Dass es schön war hatte ich ja schon erzählt, aber irgendwie ist das vielleicht noch untertrieben. Das einzigartige Ambiente da am Wasser war echt toll und der Platz mit Lichterketten, Strahlern und Feuertonnen wirklich toll und liebevoll hergerichtet. Okay, nicht jede Feuertonne brannte auf Anhieb, aber das kann ich beim nächsten Mal gerne übernehmen, ich hab in meiner Kindheit ein Kokeldiplom mit "Summa cum laude" abgelegt. Aber im Fazit kann ich nur sagen: Es war großartig und hat alle Erwartungen übertroffen, was Publikumsresonanz, Atmosphäre und Stimmung angeht! Blöder Klischeespruch, aber wahr: Wer nicht dabei war hat echt was verpasst und ich hoffe das wird nächstes Jahr wiederholt! Man könnte vielleicht auch 2x im Jahr was machen, 1x Poetry Slam, 1x Musikfestival ... oder 2 Abende direkt hintereinander - ein Abend nur Musik, anderer Abend Slam mit Akustik. Ideen über Ideen! Wie auch immer, geil war's! :) Hier auch noch mal ein Video:


Am Ende war dann auch das Bier alle und - was ich eigentlich schon vorher erwartet hatte - es fielen auch noch zwei Leute ins Wasser nachdem sie unbedingt auf der Spundwand herumbalancieren mussten. Wobei der eine dem anderen eher aus Solidarität hinterhergesprungen ist und alle wieder schnell an Land waren. Das wär ja auch was gewesen, wenn ich da mit meinem Seepferdchenaufnäher noch hätte zur Rettung ausrücken müssen...

Als wir nachher noch im Palast waren, war das es dann seltsam ... als träte man in eine andere, unlockere Welt ein. Zuerst mal hielt an der Hubbrücke ein Polizeiwagen neben uns und wir wurden gefragt ob wir angerufen hätten wegen Körperverletzung. Nein, hatten wir nicht. Was aber wohl die falsche Antwort gewesen war, denn der freundliche Beamte raunzte uns irgendwie an, als würde er uns jetzt am liebsten verhaften. Im Rockpalast dann ... komische Leute, pissbesoffen und aggressiv, am Eintritt von einem Typen mit Thorshammer-Halskette abgefertigt, den ich jetzt mal vorsichtig zumindest mal der politischen Grauzone zuordne, und nachher ein offensichtlich als Fascho ersichtlicher geistiger Tiefflieger mit Reichsadler auf dem Shirt, der noch mal durch den Laden defilierte und mit seinen "unpolitischen" Metallerkumpels abklatschen durfte.

Na ja, ich hab's ja öfter schon hier geschrieben, das mir bei sowas schlecht wird und ich es erschreckend finde, dass sowas in Meppen anscheinend wieder hoffähig wird. Ich bin eigentlich dankbar, dass solche Leute bei einem Kulturangebot wie dem "Redefluss" nicht auftauchen ... irgendwie klar, dass solche Hohlköpfe und kleinen Lichter in ihrer von Hass, Intoleranz und Parolen geprägten Schrottwelt keinen Sinn für kreativen Umgang mit der eigenen Muttersprache haben. Bei Slogans wie "Todesstrafe für Kinderschänder" und Stab- und (Haken-)Kreuzreimen bei GIGI UND DIE BRAUNEN STADTMUSIKANTEN hört's da ja meist auf. Deutschland, das Land der Dichter und Denker ... erbärmlich wenn ich solche Idioten sehe. Zum Glück hat das Event am Püntker's Patt gezeigt, dass es noch ein aufgeklärtes und kulturell hochwertiges Meppen gibt!

Die mysteriöse Tropica-Spur ... leider keine fruchtige Saufeule am Ende getroffen.
Wie dem auch sei, ich hatte dann auch keine Lust mehr mich darüber aufzuregen und wir sind dann einer mysteriösen Spur aus Tropica-Flaschen nach Hause gefolgt, an deren Ende ich eigentlich eine/n sturzbesoffene/n Fruchtsektliebhaber/in zu finden hoffte, aber nicht fand... Und am nächsten Tag hörte ich wieder massig Platten und hab noch die sehr empfehlenswerte Doku "Last Days Here" über den PENTAGRAM-Sänger gesehen ... uuuuunglaublich, muss man gesehen haben!

Wir sehen uns im September bei den nächsten Sachen im Jugendzentrum an der Königstraße:
  • Donnerstag 13.09. - ANN BERETTA (Richmond VA) + THE AFFECTED (Ibbenbüren) + OUT OF PRACTISE (Meppen). Hier geht's zum Facebook-Event!
  • Samstag 15.09. - Attack Of The Monsters III: mit Breaking to Ashes (Haren), Hate Embraced (Sögel) und Kalypso (Lingen). Hier geht's zum Facebook-Event!

Mittwoch, 1. August 2012

REVIEWS: Kalle Stille - Kurz vor dem Arsch der Welt links ab (Buch)


Kalle Stille
KURZ VOR DEM ARSCH DER WELT LINKS AB...

[Buch, 254 Seiten, Verlag "Under The Ivy", ISBN 978-3-9814906-0-2] "Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“?!? Da ahnt man schon worum’s geht, oder?!? Nein, es geht nicht nach Meppen! Na ja, vielleicht doch ein bisschen... Kurz gesagt: Ein Altpunk schreibt eine Autobiografie über seine Kindheit und Jugend in der Provinz. Also quasi ein Kleinstadtroman. Das kommt Dir jetzt irgendwie bekannt vor? Richtig! Es gab ja schon „Dorfpunks“ von Rocko Schamoni. Lustigerweise lässt Autor Kalle Stille sich am Ende seines Buchs auch augenzwinkernd darüber aus, dass Rocko allein mit seinem Buchtitel damals das ultimative Schlagwort für diese Thematik okkupiert hat. Pech also für Leute wie Kalle, die zu spät mit ihrem Buch angefangen haben, haha… Aber ich will „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ gar nicht sooo sehr mit „Dorfpunks“ vergleichen … wobei … wenn ich gleich im ersten Absatz permanent darüber schreibe, ist es eh zu spät, oder?!? Haha, also egal!


Ich bin mir nicht ganz sicher ob ich „Dorfpunks“ überhaupt mal komplett gelesen habe, daher kann ich grad wenig Parallelen ziehen. Den Film hab ich gesehen, den fand ich eher so … nett … Irgendwas ist mir noch mit Unkraut-Ex in Erinnerung geblieben, das kommt jedenfalls auch bei Kalle Stille vor. Aber Kalle schreibt hier schon so ziemlich seinen eigenen Stiefel und hat auch genug erlebt, daher sollte ich vielleicht einführend mal zusammenfassen wer dieser ominöse Kalle Stille überhaupt ist.

Karl-Heinz Stille ist seit Anfang der 1980er-Jahre in der deutschen Punk(rock)szene aktiv. Und „aktiv“ heißt, der hat nicht nur gesoffen und Bullenwagen angezündet, sondern er hat zuerst einen kleinen Vertrieb gemacht, und sich später dann aber vor allen Dingen als Fanzineherausgeber und –schreiber hervorgetan. Ich bin das erste Mal über ihn gestolpert, als wir vor ein paar Jahren gemeinsam beim Ox Fanzine geschrieben haben. Unter Dutzenden von Mitschreibern fallen einem da schnell diejenigen auf, die auf der gleichen musikalischen Wellenlänge funken, und Kalle Stille war immer mit einem exzellenten Musikgeschmack gesegnet und auch dem richtigen Humor, den er in diversen Kolumnen auslebte.

Schade eigentlich, dass wir uns (bisher) nie persönlich begegnet sind, aber jetzt konnte ich mir den guten Kalle hiermit ja wenigstens in Buchform in die gute Stube holen. Und gleich vorneweg gesagt: Ich lebe in Meppen (Emsland), er lebt in einem Kaff bei Stuttgart. Da dürfte klar sein, dass ich mich mehr als gut in seine Erlebnisse hineinversetzen kann, auch wenn uns altersmäßig circa 10 Jahre trennen. Zumindest werden direkt auf den ersten 30 Seiten schon mal Meppen und Berentzen Appel erwähnt, da fühlt man sich als emsländisches Landei doch gleich wie zuhause!

Ansonsten geht’s unter anderem darum, wie Kalle überhaupt im schwäbischen Möglingen landete, um teils kuriose Besuche bei der Verwandtschaft in der DDR, wilde Teenagerjahre mit Pornografie, Partys und Sauferei, schockierenden Rauf- und Prügelgeschichten, explosive Episoden über Sprengkörperbau mit dem schon erwähnten Unkraut-Ex, Aggressionsabbau in einer Rugbymannschaft und später dann das harte Leben nach der Schule, inklusive Wehrdienstverweigerung, treffenden Erkenntnissen über den Zivildienst in einem Behindertenwohnheim (auch da bin ich Leidensgenosse) und allem Drum und Dran. Was man halt erlebt wenn man jung ist und die Lebensplanung nicht so ganz nach dem Prinzip Schule, Lehre, Beruf, Frau, Hausbau, Kinderkriegen ausgerichtet ist…

Über allem schwebt in diesem speziellen Fall aber natürlich: PUNK! Und wie man zum Punk kommt. Wie Kalle hier selbst so schön schreibt: Man wacht nicht eines Morgens auf und ist „Punk“. Und Kalle ist auch nicht das, was manch einer heute unter Punk versteht. Also weder ein sich übers Outfit definierende „NOFX“ oder „Millencolin“ Shirtträger mit Emofrisur, noch ein schnorrender dauerbesoffener Ranzpunk vom Bahnhof. In dem Zusammenhang ist z. B. lustig zu lesen, wie er den Mythos um die Hannoveraner Chaostage demontiert, bei denen er damals selbst anwesend war! Weitere besondere Infos für Punkspezialisten sind u. a. ein kurzer Exkurs zum berühmt-berüchtigten Label Rock-O-Rama und generell das Miterleben des Wachstums der deutschen DIY-Punkszene, in Form von Mailorder-, Vertriebs- und Fanzinekultur und das daran anschließende Aufkommen von Hardcore. Was ja damals auch was anderes war, als die Prollkultur die diesen Begriff heutzutage leider für ihre Musik gepachtet hat… Wer also denkt Punk ist nur Pogo und Hardcore ist nur Circle Pit, der sollte das Buch ruhig mal lesen. Kalle bringt hier nämlich ganz gut rüber, dass Punk etwas mit Attitüde zu tun hat (oder es zumindest sollte) und nicht mit Outfit oder albernen Ritualen. Dass es beim „Punk sein“ vor allen Dingen um Selbstverwirklichung geht und darum, was auf die Reihe zu bekommen. Und ohne diese damalige „Do It Yourself“ Attitüde von Punk/Hardcore, würde es die Strukturen, auf die sich heutzutage diese ganzen halbprofessionellen „Indie/Alternative“ Band berufen, überhaupt nicht geben!


Aber Punk hat natürlich auch was mit Musik zu tun. Dementsprechend kann man hier auch viel über Kalles Beutezüge durch die Plattenläden und Mailorderlisten dieser Republik lesen. Und dass er eine ausgeprägte Sammlermentalität hat, wird schon deutlich wenn er z. B. über die Musikbilder-Einklebehefte der 80er schreibt, die dem ein oder anderen Zeitgenossen vielleicht noch bekannt sein dürften. Ich würde heute gerne mal einen Blick in Kalles Wohnung werfen. Ich tippe mal auf mindestens zwei 5x5er Expedit-Regale mit Vinylschallplatten und überall in der Wohnung verteilter Sammlerschnickschnack: Figuren, Bücher, Poster, Sammelalben…

Daneben wird einem oft beim Lesen eines solchen Buches erstmal wieder bewusst, wie sehr das Internet in den letzten Jahren auch die Zeit verändert hat. Wie viel Zeit man damals in Tape- und Vinyltrades investiert hat. Wie viel Zeitaufwand es allein war ein Mixtape aufzunehmen, während man heute problemlos die Festplatte mit einem Terabyte Musik vollsaugen kann, die man doch in den nächsten 20 Jahren nicht komplett hören kann…

Etwas seltsam fand ich ja seinen Vergleich von Masturbation und dem Entdecken von Musik – man kann beides nur alleine... ähem, nun ja… Nachdem er die Masturbationsphase hinter sich hatte, startete Kalle jedenfalls diverse Projekte. Unter anderem den schon erwähnten kleinen Vertrieb für Kassetten und Tapes und auch kurzzeitig eine eigene Band. Und vor allen Dingen da bin ich ihm dankbar, dass er die Zeit NICHT durch die rosarote Brille zeigt, wie das ja in JEDEM anderen Buch zu dem Thema zu sein scheint! In einer Band zu sein kann auch ganz schön ätzend sein, das wird hier deutlich, haha!

Wichtig sind aber natürlich auch Kalles diverse Fanzines, namens „Vollsuff“ und „Think“, für die er selber schrieb, Comics zeichnete und alles selbst rausbrachte. Bis er dann beim „Plot“ und „Zap“ landete und heute nach wie vor beim „Ox“. Auch warum er nicht beim „Trust“ mitgewirkt hat wird hier mit reichlich amüsanten Seitenhieben geklärt. Aber womöglich geh ich hier auch schon zu sehr in Insider-Details. Wer über Kalle Stilles Fanzineaktivitäten mehr wissen möchte, dem sei wärmstens sein anderes Buch „Alles was ein Fanzine braucht“ empfohlen. Ein 500-Seiten-Wälzer mit einem Großteil seines schreiberischen Schaffens aus den letzten 27 Jahren!


Über „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ kann ich jedenfalls resümieren, dass ich eine Menge Spaß mit dem Buch hatte. Wahrscheinlich auch, weil ich ähnlich aufgewachsen bin wie Kalle Stille und einen ähnlichen Background hab. Insgesamt gibt es hier vielleicht keine Überraschungen, aber was soll es in so einer Kleinstadt-Autobiografie auch für Überraschungen geben?!? Dass dem Protagonisten eines Morgens ein Horn aus der Dunstkiepe gewachsen ist oder das er sich ein zweites Arschloch gefurzt hat? Nein nein, das hier ist ein solides amüsantes Buch, in dem ich viel Parallelen zu meiner eigenen Kindheit und Jugend finde, auch wenn ich ein paar Jahre nach dem Autor zur Welt gekommen bin. Ich denke das Buch ist aber durchaus auch für Leute interessant, die nicht unbedingt aus der Punkrockszene kommen, sich aber gerne auf Geschichten von irgendwelchen Nerds einlassen, hehe… Speziell Kleinstädter und/oder Landeier!

Ich hatte kürzlich das Gefühl, dass es momentan relativ viele dieser „Kindheit in den 80ern“ Bücher gibt. Da gehört „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ natürlich auch erstmal dazu. Aber an diesem Buch schätze ich vor allen Dingen, dass hier nicht permanent diese ätzende „Früher war alles besser“ Sentimentalität verbreitet wird. Kalle Stille hat vielmehr eine realistische rückblickende Sicht auf die Dinge, garniert mit einem dicken Brocken Sarkasmus/Ironie und staubtrockenem Humor.

Kritik gibt’s von meiner Seite eigentlich nicht viel. Rein technisch hat das Buch einen etwas blöden Satzspiegel, der bis fast an den Rand und in die Bindung geht. Inhaltlich häufen sich im hinteren Teil die Rechtschreibfehler und es gibt auch einige Wiederholungen (wir werden z. B. des Öfteren aufs Neue über die Sprenggeschichten mit dem Unkraut-Ex aufgeklärt, und welche Kalles zweite selbstgekaufte Platte war und was es damit auf sich hatte, nicht zu vergessen seine permanenten Höhlenmenschen-Metaphern…), die man mit einem guten Lektorat bestimmt noch hätte ausdünnen können. Aber das ist dann wahrscheinlich auch schon nicht mehr Punk, haha… Und ich schätze Kalle Stille wollte von vornherein keinen „Preis für kreatives Schreiben“ gewinnen! Das überlassen wir dann mal lieber hippen 17jährigen Indie-Boys’n’Girls, die sich ihre Texte von irgendwelchen Blogs zusammenklauen. (Bernd)